Prof. Dr. Paul Schwarzenau – Islam und Christentum – zwei Geschwisterreligionen

Der christlich-islamische Dialog hat in der letzten Jahren ohne Zweifel große Fortschritte gemacht. Man hat sich längst daran gewöhnt, von den drei Abrahamsreligionen zu sprechen. Darin liegt die Vorstellung einer geschwisterlichen Verwandtschaft eingeschlossen. Als ein besonders sichtbarer Ausdruck dieser Zusammengehörigkeit finden da und dort bereits gelegentliche ökumenische Gottesdienste statt. Die drei abrahamitischen Religionen stellen sich dann als drei Konfessionen der Einen Religion Gottes dar.So erfreulich diese und manche andere Erscheinungen im Dialogfeld von Christentum und Islam auch sind. Viel zu gering ist noch das gegenseitige wirkliche Wissen von der Geschwisterreligion, halten sich unterschwellige Ängste vom »Überrolltwerden vom Islam«, die durch Aufbau von Feindbildern durch die Medien noch genährt werden.

Ohne mich weiter bei diesen unerfreulichen Tatsachen aufzuhalten, gehe ich gleich auf eine Hauptschwierigkeit im Verhältnis von Christentum und Islam ein. Auf dieses Problem darf man nach erfolgreichem Dialog endlich eine positive Klärung erwarten, ja man muss sie aus Gründen, die in den Wurzeln des Christentums und in der Lehre von den Gesandten des Korans liegen, mit Notwendigkeit fordern. Ich fordere sie ausdrücklich als Christ. Es handelt sich um die Anerkennung des Propheten Mohammed als eines wahren und legitimen Gesandten Gottes innerhalb der Reihe der gottgesandten Propheten, der auch für die christlichen Kirchen und Gemeinschaften eine wegweisende Botschaft von Gott überbracht hat. Auf diese Aufgabe des Propheten Mohammed und seine enge, ja brüderliche Beziehung zu Jesus von Nazareth werde ich im Laufe meines Vortrags noch näher eingehen.

Die evangelische Kirche hat es hier besonders schwer, da sie im Kampf gegen den Nationalsozialismus in der sog. Barmer Theologischen Erklärung Jesus als das eine Wort bekannte, neben dem es andere Worte Gottes von analoger Autorität rächt gebe. Damit sind die andern Religionen eigentlich als religiöse Gesprächspartner nicht mehr vorhanden, Aber die Barmer Thesen, wie man sie auch nennt, gemessen nicht überall in der evangelischen Kirche die gleiche unumstrittene Autorität. Ich meinte, dieses Hindernis wenigstens nennen zu sollen.

Ein weiteres schweres Hindernis für den Dialog liegt schließlich im Problem der Mission. Mission und Dialog schließen sich gegenseitig aus. Die bekannte Aufforderung zur Mission an die Christen steht am Schluss des Matthäus-Evangeliums, wo es heißt: Mir [Jesus] ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden. Darum gehet hin in alle Welt und machet zu Jüngern alle Völker.« Dieser vermutlich unechte Taufbefehl enthält dann noch den für das Neue Testament singulären trinitarischen Zusatz: »Taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.«

Es ist aber in diesem Text in einem differenzierten Sinne von den »Völkern«, den éthne, die Rede. Ethne bedeutet »Heiden«, das sind die Anhänger der Götterreligionen oder Völkerreligionen. Das Volk Gottes aber heißt Iaós, nicht éhnos. Die Jünger sind also nicht zu denen gesandt, die schon bei Gott sind. Das gilt insbesondere für das Judentum und für den Islam. In einem weiteren Sinne für alle Weltreligionen.

Der Koran bringt das auf eine eindeutige Weise zum Ausdruck, indem er in Sure 3 zum Dialog aufruft:

»Kommt herbei zu einem gleichen Wort zwischen uns!«

In Sure 29,45 erläutert der Koran:

»Und streitet nicht mit dem Volk der Schrift [Juden und Christen], es sei denn in bester Weise. Und sprechet: Wir glauben an das, was zu uns herabgesandt ward und herabgesandt ward zu euch, und unser Gott und euer Gott ist ein einiger Gott und ihm sind wir ergeben.«

Am zusammenhangvollsten wird dies aber in Sure 5, 52-53 zur Sprache gebracht. Man hat diese Sure auch das »Testament des Korans« genannt (M. Salim Abdullah), da sie die letzte Koranoffenbarung enthält, die an den Propheten Mohammed erging, wie wir aus V. 5 entnehmen können (»Heute habe ich euch eure Religion vollendet«):

»Einem jeden von euch haben wir eine klare Satzung gegeben und einen deutlichen Weg vorgeschrieben. Und hätte Gott es gewollt, er hätte euch alle zu einer einzigen Gemeinde gemacht. Doch er wünscht euch auf die Probe zu stellen durch das, was er euch gegeben. Wetteifert daher miteinander in guten Werken.«

Diese Koranoffenbarung hat die größte Bedeutung für die deutsche Dichtung und Philosophie gewonnen, und zwar als Ringparabel, wie sie in Lessings dramatischem Gedicht »Nathan der Weise« uns aus dem Munde des weisen Nathan vorgestellt wird. Die literarische Einkleidung konnte Lessing der dritten Novelle des ersten Tages von Boccaccios Dekameron entnehmen. Bei Lessing tritt aber eine noch größere Nähe zum Koran hervor:

»Es eifre jeder seiner unbestochnen,

      Von Vorurteilen freien Liebe nach!

 

Es strebe von euch jeder um die Wette,

Die Kraft des Steins in seinem Ring‘ an Tag

Zu legen! Komme dieser Kraft mit Sanftmut,

Mit herzlicher Verträglichkeit, mit Wohltun,

Mit innigster Ergebenheit in Gott

Zu Hilf‘! Und wenn sich dann der Steine Kräfte

Bei euern Kindes-Kindeskindem äußern:

So lad ich über tausend tausend Jahre

Sie wiederum vor diesen Stuhl. Da wird

Ein weisrer Mann auf diesem Stuhle sitzen

Als ich; und sprechen.«

Diese Stelle hat das koranische Toleranzverständnis in den Mittelpunkt der deutschen Dichtung und Philosophie gestellt, sehr zum Missfallen des kirchlich-dogmatischen Christentums. Da die Deutschen ein Volk sind, das seine eigenen Wurzeln nicht kennt die Muslime, die dieses Toleranzverständnis in ihrem Koran als für sie verbindlich vorfinden, in dieser Hinsicht deutscher als die Deutschen. Die deutsche Kultur der Neuzeit hat ihre Wurzeln nicht so sehr im christlichen Abendland, sondern in der Geistigkeit bedeutender Juden (Spinoza, Moses Mendelssohn) und in der Spiritualität des Korans. Neben Lessing, seien hier nur Herder, der sogar ein evangelischer Theologe und Geistlicher war, Rückert und vor allem Goethe mit seinem »West-östlichen Divan« genannt. »Im Islam sind wir geboren, im Islam leben und sterben wir alle.«, war in seinen Briefen seit 1815 ein immer wiederkehrender Satz. Er hatte Korane für Forschungszwecke anschaffen lassen und stand im Briefwechsel mit berühmten Koranforschem. Den dialogischen Zusammenhang zwischen Orient und Okzident hielt er für nunmehr unauflöslich. »Orient und Okzident sind nicht mehr zu trennen.« Immanuel Kant hat über eine seiner religionsphilosophischen Schriften die Basmala (»Im Namen Gottes des Barmherzigen, des Erbarmers«) in arabischer Schrift gesetzt, die Trinitätsformel hätte er dazu nicht benutzen können, da sie seinen philosophischen Intentionen nicht entsprach. Lessing, um auf ihn zurückzukommen, hat darüber hinaus in Seiner »Erziehung des Menschengeschlechts« auf ein nunmehr anbrechendes »Reich des Geistes« hingedeutet, das auf die Gesetzesreligionen »Reich des Vaters« und der versöhnenden kirchlichen Vermittlungsreligionen (»Reich des Sohnes«) folgen wird. Damit ist ein Hinweis auf den Propheten Mohammed gegeben, durch den der Geist sprach und der mit der Verheißung des Johannes-Evangeliums von einem zweiten Gesandten, dem Parakleten, in Verbindung steht. Ich werde darauf noch näher eingehen. Die gesamte deutsche Geschichtsphilosophie (Fichte, Hegel usw.) hängt mit diesen drei Reichen Lessings zusammen, die in ein nachchristliches Zeitalter hinaustreten. Diese Bemühungen sind von der Kirche durchweg zurückgewiesen worden. Es sei noch darauf hingewiesen, dass die »Wissenschaftslehre« von Johann Gottlieb Fichte, obgleich sie sich als Weg zum wahren Christentum versteht, eher mit einer hinduistischen Upatüshad in Zusammenhang gebracht werden kann als mit dem auf kirchlicher Autorität Aussenden Dogmatismus. Es ist ein Christentum des Geistes.

Wir sollten die Chance wahrnehmen, die sich aus der neuen Begegnung eines durch den Dialog geöffneten, reinen, zugleich rechtlich als gleichwertig gesicherten Islam mit dem zu seinen wahren Wurzeln offenen geistigen und freien Christentums in Deutschland ergeben kann. Schon einmal war in Deutschland eine solche Vision in der größten deutschen Dichtung des Hochmittelalters, in Wolfram von Eschenbachs »Parzival«, aufgeleuchtet. Parzival als Vertreter eines geistigen Christentums und sein ihm noch unbekannter Bruder Feirefiz als Repräsentant des Islam erkennen sich nach vergeblichem Kampf gegeneinander als zusammengehörig, die zusammen erst eine Ganzheit bilden. Deutschland könnte die Stätte dieser Begegnung werden, aus der wechselseitig größte Kulturleistungen hervorgehen.

Ich möchte nun zunächst auf die große Bedeutung hinweisen, die der Koran für das Verständnis der Bibel besitzt. Im Koran fließen Überlieferungsströme wieder ein, die durch die Kanonisierung des Alten und Neuen Testaments eingeschränkt oder ausgeschlossen worden sind. Die Evangelien beispielsweise sind erst am Ende des ersten bis zum Anfang des zweiten Jahrhunderts nach Christus entstanden. Die darin benutzten Überlieferungen wurden für neue Zwecke umgebogen. Die jesuanische und urchristliche Überlieferung ist nicht ungebrochen in das Neue Testament übergegangen. Der Islam spricht in diesem Zusammenhang von »Fälschungen« der Überlieferung, die durch den Koran richtig gestellt werden. Die moderne wissenschaftliche Erforschung der Evangelien bestätigt das, indem sie die Sinnverschiebungen herausarbeitet, die sich an den Überlieferungselementen ergeben hat (Form- und Redaktionsgeschichte). Die moderne theologische Wissenschaft ist geradezu leidenschaftlich bemüht, das Bild des historischen Jesus, des Menschen Jesus, wieder aus den einzelnen Überlieferungsschichten herauszuarbeiten, der seinem Volk als Prophet erschien.

Die jüdischen und christlichen Legenden, die im Koran neu geoffenbart erscheinen, trug der Prophet lange mit sich herum. Er hatte sie mündlich von jüdischen oder judenchristlichen Gewährsleuten erfahren. Sie waren in dieser Form auch den Moslems bekannt. Das alles gehört zu den asbab an-nuzul, den »Ursachen der Offenbarung«, bis dann die Neuoffenbarung und Richtigstellung durch den nuzul, den Niederstieg des klärenden Offenbarungswortes, erfolgte. In diesem Sinne urteilt der bedeutende Koranforscher Rudi Paret: »Die Reproduktion des von anderen übernommenen Materials ist . . in seinem Bewusstsein zu einem echten Offenbarungserlebnis geworden. Aber für Mohammed lag eben der eigentliche Schwerpunkt im letzten Stadium des Aneignungsprozesses. Der Sache nach mochte sein Wissen von einem fremden Menschen stammen, – in der abschließenden Formulierung in deutlicher arabischer Sprache wurde es ihm neu geschenkt, und zwar von oben, nämlich von Gott.«*1

Hier ist die Bedeutung der Judenchristen als Vermittler hervorzuheben. Es gab, wenn Sie das Neue Testament aufmerksam lesen, eine große Spaltung in der Urchristenheit, nämlich in eine Gruppe, die sich um den Bruder Jesu, Jakobus den Gerechten, scharte, die Judenchristen, und in eine andere Gruppe, die sich hauptsächlich um den Apostel Pauls scharte, die Heidenchristen. Die hatten zum Teil die gleichen Quellen der Jesusüberlieferung, legten sie aber unterschiedlich aus und – das gilt insbesondere für die heidenchristliche Gruppe – versahen sie mit Zusätzen und Umdeutungen, wie man das schon deutlich im ältesten synoptischen Evangelium, dem Markus-Evangelium, erkennen kann.

Diese beiden Gruppen bekämpften sich zum Teil bis aufs Blut. Das können Sie aus den Paulusbriefen noch herauslesen. Für die judenchristlichen Gemeinden waren viele Auffassungen, die in den heidenchristlichen Gemeinden in den Mittelpunkt der christlichen Religion traten: das stellvertretende Sühnopfer Christi, die Erbsündenlehre, die Vergöttlichung Jesu, die Abschaffung des mosaischen Gesetzes usw., unannehmbare Dinge und mit der Lehre Jesu völlig unvereinbar. Für das Judenchristentum war der Apostel Paulus der Feind, der feindliche Mann, der Unkraut in den Weizen hineingesät hat, der Pseudoapostel, der ja von sich gesagt hatte, dass ihn der historische Jesus nicht interessiere (2. Korinther 5,16). Ich will damit kein endgültiges Urteil über Paulus aussprechen, aber ich möchte Ihnen doch wenigstens andeuten, dass es da eine große Spaltung gab. So drifteten diese zwei Christentümer auseinander: siegreich die heidenchristliche Richtung, die nach Griechenland, nach Rom, also nach dem Westen hin sich ausbreitete, und nach Osten die judenchristliche Hälfte, die sich über Arabien, Syrien, Mesopotamien, Indien und nach Äthiopien hin ausbreitete. Ihren Sieg hat der bedeutende Neutestamentler Adolf Schlatter so beschrieben: Mohammed übernahm den von den jüdischen Christen bewahrten Besitz, ihr Gottesbewusstsein, ihre den Gerichtstag verkündigende Eschatologie, ihre Sitte und ihre Legende und richtete als der von Gott Gesandte ein neues Apostolat auf.« *2

Mohammed hat weder die hebräische Bibel noch das Neue Testament gekannt, geschweige daraus abgeschrieben. Der Koran ist eine davon völlig unabhängige Neuschöpfung aus mündlichen Quellen. Schon der Name für Jesus im Koran, Isa, weist auf die Judenchristen hin. Nach einem Besuch bei dem Dortmunder Imam Ismail Zengin schenkte mir dieser ein Bild, das den Stammbaum des Propheten Mohammed darstellt. Dabei führte er aus: Wir, die Moslems, stammen von Ismael ab, die Juden von Jakob/Israel und ihr Christen von Esau. Diese Bemerkung verwundene mich, da sie mir sonst unbekannt war. Dann aber fiel mir auf, dass in dem Namen Isa das hebräische Wort für Esau, Esaw, stecken könnte. Die Judenchristen und ihr Begründer Jesus war für die Juden, die die Judenchristen aus der Synagogengemeinschaft ausgestoßen hatten, der feindliche Bruder Esau, der am Freiheitskampf gegen die Römer nicht teilgenommen hatte und über den Fall Jerusalems in Schadenfreude ausbrach. Später hat sich diese Gehässigkeit, die mit dem Namen Isa/Esau verbunden war, wohl verloren. Aber der Name blieb, im Arabischen wäre ja auf jeden Fall ein Jeschu möglich gewesen. *3

Man kann die Botschaft des Korans einen aktualisierten Monotheismus nennen. Gott umfasst alles. Selbst die Auferstehung ist bereits in die Schöpfung hineinverlegt.

»O ihr Menschen, wenn ihr betreffs der Auferstehung im Zweifel seid, so haben wir euch erschaffen aus Staub, alsdann aus einem Samentropfen, alsdann aus geronnenem Blut, alsdann aus Fleisch, geformtem und umgeformten auf dass wir euch (unsere Macht) erwiesen.« (Sure 22, 5-7)

Die kosmische Anbetung ist für jeden, der sehen will, erkennbar, da morgens und abends in den langen Schatten alle Welt vor Gott niederfällt.

»Siehst du denn nicht, dass alles, was in den Himmeln und auf Erden ist, sich vor Gott niederwirft, die Sonne, der Mond, die Sterne, die Berge, die Bäume und die Tiere und viele Menschen?« (Sure 22, 18)

Nur der Mensch ist ein Undankbarer. In der Not erinnert er sich Gottes, geht die Not vorüber vergisst er Gott.

»Siehst du denn nicht, dass die Schiffe auf dem Meere durch Gottes Gnade eilen, um euch etwas von seinen Zeichen zu zeigen? Hierin sind wahrlich Zeichen für jeden Standhaften und Dankbaren. Und wenn sie eine Woge gleich Schatten bedeckt, dann rufen sie zu Gott in lauterem Glauben. Hat er sie jedoch zum Strand errettet, dann schwanken einige hin und her. Unsere Zeichen aber bestreiten nur alle Treulosen und Undankbaren.« (Sure 31, 30)

Der Koran mit seiner Sprachwerdung Gottes sucht diesen Rückfall zu verhindern. Wer den Koran liest, erlebt sich ganz vom Sprechen Gottes umgriffen. Die ständige Rezitation des Korans ist der aktualisierte Monotheismus.

Aber der Islam beginnt nicht mit der Sendung des Propheten Mohammed. Wir müssen zwischen dem historischen Islam, der mit der Koranoffenbarung durch den Propheten Mohammed begann, und einem universalen Islam, der mit Adam als dem ersten Propheten in die Welt kam. Es gibt eine ganze Reihe oder Kette von Gesandten Gottes von Adam bis zum letzten Propheten, Mohammed. Zu diesen Gesandten gehören beispielsweise Rama, Buddha, Zarathusthra (Zoroaster), Noah, Abraham, Mose, Johannes der Täufer, Jesus u.a. Mit dem Auftreten dieser Gesandten ist die Entstehung einer Religion verbunden und der Empfang einer Offenbarung in Gestalt eines Buches. Es liegt also ein Islam-Kern allen Religionen zugrunde, was immer auch später sich um diesen legte. Der Islam ist die Ur-Religion in allen Religionen. Völker, zu denen kein Gesandter karr4 leben noch in der »Unwissenheit« (Dschahiliya), wie der Islam das Heiden- oder Völkertum nennt. Eine besondere Beziehung besteht im Koran zwischen den Gesandten Gottes Jesus und Mohammed. Der Koran enthält eine eigene Christologie, die manche Entsprechung zu den judenchristlichen Überlieferungen im Lukas-Evangelium und in der lukanischen Apostelgeschichte besitzt. Es ist eine Knecht-Gottes-Christologie im Unterschied zur Sohn- Gottes-Christologie in den Evangelien. Wie wird Jesus im Koran genannt? Er heißt dort der Gottesknecht, der Messias, Gottes Prophet und Apostel (Gesandter), Gottes Geist, Gottes Wort (Logos), er ist geboren von der Jungfrau Maria, in diesem Sinne ist er der zweite Adam, wie dieser unmittelbar von Gott geschaffen. Ob es im Koran zu einer wirklichen Ablehnung der Trinitätslehre kommt, ist umstritten. Abgelehnt wird die auch von der Reichskirche als häretisch abgelehnte Trinität: Gott, Maria, Jesus. Die Anschauungen des Korans ließen sich leicht mit der Auffassung des Arius in Einklang bringen, der den Logos (Wort bei Gott) auf der Ebene des Geschöpfes sieht. Auch hat die kirchliche Trinitätslehre nicht unmittelbar etwas mit dem historischen Jesus zu tun. Auf dies Problem geht die so genannte Zwei-Naturen-Lehre ein. Die ursprüngliche Intention der Trinitätslehre ist die Einheit Gottes als innergöttliche Entfaltung und Lebendigkeit dieser Einheit. Über diese Zusammenhänge hat die Diskussion zwischen Islam und Christentum noch gar nicht recht begonnen. *4

Ein schwerwiegender Unterschied zwischen offizieller christlicher Überlieferung und Koran scheint darin zu bestehen, daß nach koranischer Überlieferung Jesus nicht am Kreuz gestorben ist. Vielmehr heißt es in der Sure 4, 157:

»Und wegen ihrer Rede: Wir haben ja den Messias, Jesus, Sohn der Maria, den Gesandten Gottes, ermordet, doch konnten sie ihn nicht töten, noch am Kreuz sterben lassen, sondern es erschien ihnen bloß so, und diejenigen, die das Gegenteil in dieser Sache behaupten, sind ja selber im Zweifel darüber, sie haben Sicherheit, sondern folgen einer Vermutung, da sie ihn nicht für sicher getötet hatten.« (Übersetzung: Sadr-ud-din)

Dieses »es erschien ihnen bloß so« ist eine den Sinn zu vermitteln suchende Übersetzung des koranischen Ausdrucks »wa lakin schubbiha lahum«, und das heißt wörtlich »vielmehr wurde er ihnen (den Juden) ähnlich gemacht (d.h. einem, der tatsächlich am Kreuz gestorben ist)«. Das übersetzen jetzt einige, leider auch Paret, im Sinne von Legenden, die in gnostischen Kreisen und später auch im Islam aufgekommen sind, als wäre für Jesus ein anderer unterschoben worden, der statt seiner gekreuzigt und am Kreuz gestorben ist. Wo man dieser Vorstellung einer Substitution oder Unterschiebung eines anderen für Jesus nachgibt, übersetzt man dann in folgendem Sinn: »Vielmehr erschien ihnen (ein anderer) ähnlich (so dass sie ihn mit Jesus verwechselten und töteten)«. Aber der koranische Text zwingt gar nicht dazu, denn nicht »er wurde ähnlich gemacht«, Judas oder sonst einer, sondern Jesus wurde ähnlich gemacht für den Anblick der Juden, als wäre er tatsächlich am Kreuz gestorben. Denn davon war in der Rede der Juden ja vorher die Rede.

Es wird heute sehr lebhaft – auch im Zusammenhang mit dem Turiner Grabtuch – erörtert, dass Jesus noch lebend vom Kreuz abgenommen, dann in die Grabkammer zur weiteren Behandlung niedergelegt wurde und danach unter Umständen bis nach Kaschmir weiter gewandert sei. Ich kann für diese Vorstellungen hier nur auf die diesbezügliche Literatur (Holger Kersten, Elmar R. Gruber, Siegfried Oberineier u.A.) hinweisen. Sie haben sehr viel für sich, wenn man das Johannes-Evangelium – wohlgemerkt das ursprüngliche! – richtig liest. Dort heißt es nicht, dass Jesus am Kreuz gestorben sei, sondern dass er »erhöht worden ist von der Erde« (Job. 12,32, vgl. auch 3,24, 8,28). Das stimmt zusammen mit Sure 4, 158:

»Nein, Gott hat ihn zu sich erhoben. Gott ist mächtig und weise.«

Damit wird noch einmal ausdrücklich im Anschluss an den vorausgegangenen Vers 157 zurückgewiesen, dass Jesus am Kreuz gestorben sei und stattdessen betont, dass Gott ihn zu sich erhöht (rafa’a) hat. Gott hat seinen Gesandten nicht verlassen, sondern, so ergänzt Sure 23, 50, ihn und seine Mutter, nachdem er sie vorher in ein Land gerettet hatte, das einige auf Kaschmir deuten, zu sich in den Himmel erhoben:

»Wir (=Gott) machten den Sohn der Maria und seine Mutter zu einem Zeichen und gaben ihnen Zuflucht auf einer Höhe, einem Ort der Sicherheit mit Wasser von fließenden Quellen.«

Daraus folgt, dass der Koran sogar einen versteckten Hinweis auf die leibhafte Himmelfahrt der Maria gibt.

In der Sure 19 »Meryem« und in der Sure 3 »die Sippe Imran« wird die Geburtsgeschichte Jesu erzählt, die judenchristliche Überlieferung ähnlich der lukanischen enthält.

In der außerkoranischen Mahdi-Vorstellung werden Endzeit und Wiederkunft Jesu vorausgesagt. Die Welt treibt der Endzeit zu. Die Verhältnisse auf Erden verschlechtern sich. Der Mahdi (=ein von Gott »Geleiteter«) bringt das goldene Zeitalter. Nach diesem Zwischenreich eilt die Welt endgültig ihrem Ende entgegen. Der Antichrist (Daddschal) erscheint. Danach erscheint der zu Gott entrückte Jesus und verkündigt den universalen Islam. Die zweite Lebenshälfte Jesu wird also in die Endzeit gerückt. Dann erfolgt der erste Posaunenstoß Israfils. Alles wird tot niedergestreckt. Mit dem zweiten Posaunenstoß setzt dann das Jüngste Gericht ein.

Es gibt aber auch Hinweise auf Mohammed in der Bibel. 5. Mose 18,15 heißt es:

»Einen Propheten wie mich wird der Herr dein Gott dir erwecken aus der Mitte deiner Brüder; auf den sollt ihr hören!«

Auf diesen Propheten, der als der kommende zweite Mose erwartet wird, bezieht sich Jesaja 42,6. Dort heißt er der Gottesknecht, der den Volksbund stiftet. In diesem Sinne heißt er auch: der Prophet. In diesem Sinne gibt es in den Evangelien, besonders im Matthäus-Evangelium, den Versuch, Jesus als den zweiten Mose zu stilisieren, der einen neuen Bund stiftet. Aber Jesus hat keinen eigentlichen Volksbund gestiftet, es kam lediglich zur Bildung einer Kirche mit scharfer Trennung von aller Politik. Der zweite Mose soll aus der Mitte der Brüder Israels erweckt werden, und der Bruder Israels ist Ismael. Als der zweite Mose wird er alle bisherige Prophetie zum Abschluss bringen. In diesem Sinne heißt es in der Sure 33, 40:

»Mohammed ist Gottes Gesandter und das Siegel der Propheten.«

Das heißt also: Die ganze Kette der Gesandten kommt zu einem Schlusspunkt, so wie ich eine Urkunde dadurch endgültig mache, dass ich ein Siegel darunter setze: Mohammed ist also der letzte Gesandte. Aber darin zeigt sich zugleich die unauflösliche Zusammengehörigkeit von Jesus und Mohammed. Das bringt Sure 61, 6 mit folgenden Worten zum Ausdruck:

»Und da Jesus, der Sohn der Maria, sprach: O ihr Kinder Israel, ich bin Gottes Gesandter an euch, bestätigend die Tora, die vor mir war, und einen Gesandten verkündigend, der nach mir kommen soll, dessen Name Ahmed ist.«

Dieser Name »Ahmed« hat die gleichen Stammkonsonanten HMD wie Mohammed«. Es ist im Grunde genommen ein und dasselbe Wort, das »der Gepriesene, der Gelobte« bedeutet. Und das kommt nun zusammen mit einem Satz, den Jesus im Johannesevangelium in seinen Abschiedsreden gesagt hat (Joh. 16, 7):

»Aber ich sage euch die Wahrheit: es ist euch gut, dass ich hingehe. Denn wenn ich nicht hingehe, so kommt der Paraklet nicht zu euch. Wenn ich aber gehe, will ich ihn zu euch senden…, (V. 13) der wird euch in alle Wahrheit leiten. Denn er wird nicht aus sich selber reden, sondern was er hören wird, das wird er reden, und was zukünftig ist, wird er euch verkündigen.« *5

Mit diesem Jesuswort geht gut zusammen, dass Mohammed Wert darauf legt, dass er den Auditionen, der Stimme der Koranoffenbarungen, nichts hinzugefügt hat.

Es gibt in der Vorstellung der Judenchristen mit denen das Johannes-Evangelium zusammenhängt, nicht nur einen Messias, sondern zwei. Später ist der kirchliche Redaktor hinzugekommen und hat jedes Mal, wenn der Paraklet, also die Bezeichnung des zweiten Gesandten genannt wird, das Wort »der Heilige Geist« dahinter geklebt und so praktisch die jüdische und judenchristliche Tradition von den zwei Messiassen in die kirchliche Lehre von nur einem Messias und nur einem Geist Gottes, der dann auch nur in der Kirche wartet, umgebogen. Damit waren alle anderen draußen.

Es ist aber eine Eigentümlichkeit des Judenchristentums, dass man nicht nur einen Messias, sondern tatsächlich zwei erwartete. Und zwar geht diese Vorstellung von den beiden Gesandten zurück auf den so genannten Essenerorden, die Leute von Qumran. In den Schrift- Rollen von Qumran gibt es die Vorstellung, dass am Ende der Zeiten Gott die beiden Messiasse schicken werde. Der erste ist der Volksmessias aus dem Hause David, der später auch der Ben Josef, also der Sohn Josefs, genannt wird. Er wird auch als Kriegsmessias vorgestellt, der den Heiligen Krieg gegen die Römer durchfuhren und dadurch das Reich Gottes auf Erden aufrichten wird. Der Gründer der Dynastie David war ja der König, der Israel vollendete, indem er den Heiligen Krieg der Landnahme mit der Eroberung Jerusalems zum Abschluss brachte. Eine weitere Vorstellung war, dass dieser Messias fallen werde. Es gab natürlich viele Übergänge in diesen Ansichten, so dass man sie nicht zu stark vereinheitlichen darf. Dieser Auffassung scheinen Deutungen zu widersprechen, die Jesus auf Grund der Bergpredigt als einen radikalen Pazifisten vorstellen. Andererseits existieren Jesusworte, nach denen er nicht gekommen ist, Frieden auf die Erde zu bringen, sondern das Schwert (Matthäus-Evangelium 10,34) und aus dem Gespräch Jesu mit seinen Jüngern beim letzten Mahl geht hervor, dass diese während des Einzugs in Jerusalem Waffen unter den Kleidern getragen haben und auch jetzt noch bereit sind, ihn damit zu verteidigen (Lukas-Evangelium 22,3). Diese Annahme einer gescheiterten Jesus-Revolution ist nicht ganz abwegig und stellt die Bergpredigt in das Licht einer Magna Charta für das Reich Gottes und für ein Übergangsverhalten bis zur endgültigen Aufrichtung desselben.

Neben diesem Messias aus dem Hause David wurde noch ein zweiter Messias, der hohepriesterliche Messias, erwartet, das ist der »Grosse« der aus dem Hause Aaron stammen und die eigentliche Erfüllung bringen wird. Dieser zweite Messias wurde bei den Judenchristen nach dem Auftreten des Messias Jesus noch erwartet. Die Judenchristen sahen ihn zunächst in dem Bruder Jesu, Jakobus. Von diesem Bruder Jesu wird in dem gnostischen Thomas-Evangelium eine eigenartige Aussage gemacht:

»Es sprachen die Jünger zu Jesus: Wir wissen, dass du von uns gehen wirst. Wer ist’s, der groß sein wird über uns? Jesus sprach zu ihnen: Am Ort, wohin ihr gekommen seid, werdet ihr gehen zu Jakobus dem Gerechten, dessentwillen der Himmel und die Erde geworden sind.« (Spruch 12)

Jakobus ist also das Fundament der judenchristlichen Gemeinde und zugleich das Fundament des Universums. Er ist sowohl der Leiter der Urgemeinde von Jerusalem und der Sachwalter der judenchristlichen Gnosis. Von ihm geht die Weisheit aus, die die Rechtleitung für die Glaubenden enthält In der Väterliteratur ist Jakobus als der wahre Hohepriester in hohepriesterlicher Kleidung vorgestellt worden. Jakobus ist danach der zweite Gesandte oder Messias, der das Werk Jesu in jeder Hinsicht vollendet.

Nun ist dieser Jakobus von seinen Gegnern, von dem falschen Hohenpriester – die Essener nannten die Priester im Tempel zu Jerusalem die falschen Priester – getötet worden. Man hat ihn von einer Tempelzinne gestürzt und dann mit einem Knüppel erschlagen. Nach anderer Überlieferung soll er gesteinigt worden sein. Er ist ein Märtyrer. Und von daher war die Erwartung eines zweiten Messias oder Gesandten zunächst nicht verwirklicht worden. Man musste auf einen anderen warten.

Und diese Erwartung wird über das Judenchristentum zu den arabischen Christen weitergegangen sein. Das zeigt sich daran, dass ein aus dieser Tradition stammender Christ, Waraqa, ein Vetter von Mohammeds Frau Chadidscha, sofort, als die erste Offenbarung an Mohammed kam, erklärte: »Der Engel Gabriel ist wahrhaftig zu ihm gekommen, wie er zu Moses kam, und er ist wahrlich der Prophet dieses Volkes!« *6 Das heißt also, die Verheißung eines zweiten vollendenden Gesandten ist vom Judenchristentum in die arabische Erwartung übergegangen und ist dem Propheten Mohammed in der Sure 61 neu geoffenbart worden mit der Maßgabe, dass in ihm dieser zweite Messias gekommen ist. In diesem Sinne sind Jesus und Mohammed Brüder, und so hat sich Mohammed auch verstanden. Ja, er hat sich mit Jesus identisch gefehlt. Er hat sagen können: »Ich bin Jesus.«

Man kann also sagen, dass das Christentum jesuanischer Prägung und der Islam arabischer Prägung ganz nah beieinander stehen. Das Urchristentum, so gesehen, steht näher beim Islam als unser heidenchristlich geprägtes Christentum. Dazu kommt noch die Vorstellung vom »wahren Propheten« in der judenchristlichen Gemeinde. Sie ist verwandt mit der bereits erwähnten Vorstellung vom dem Propheten und dein damit verbundenen Vorstellungskomplex vom Gottesknecht. Nach dem Judenchristentum waren all die großen Gestalten der biblischen Heilsgeschichte von Adam über Moses bis zu Jesus ein Ausdruck des »wahren Propheten«, der in Jesus als zweiter Moses auftritt und die Tora von den falschen Perikopen (Bibelabschnitten) reinigt. Die Idee einer Verfälschung der heiligen Bücher bestand also schon in urchristlicher Zeit. Von diesem »wahren Propheten« heißt es dann weiter in einer urchristlichen Überlieferung:

»Er ermahnt, allein zu einem Gott zu beten, hasst Opfer, Blutvergießen, beendet Kriege, predigt Frieden, macht barmherzig.« *7

In welchem Sinne kann die Auffassung von Mohammed als Parakleten für einen Christen von Belang sein? Eine Brücke bildet Leasings Lehre von den drei Reichen, auf die wir schon hinwiesen. Lessing war der Meinung, dass auf das Reich des Vaters das Reich des Sohnes folge. Kennzeichnend für die Kirche sei die Spaltung in Kirche und Staat, Religion und Welt. Nun wollen wir aber weltlich so leben, dass wir darin den Willen Gottes erfüllen, »Jesus verkündigte das Reich Gottes, aber es kam die Kirche« hat Alfred Loisy gesagt. Das Reich Gottes ist aber die Aufhebung der Spaltung in Kirche und Staat, in den Einen Menschheitsbund, der aus göttlichem Willen lebt. Die umma, die von Mohammed gegründete islamische Gemeinde, bestehend aus der gleichberechtigten und autonomen Mitgliedschaft aller Leute der Schrift nach der Urverfassung von Medina, ist weder eine Staats- noch eine Kirchengründung. Sie ist din wa daula, Einheit von geistlichem und weltlichem Reich, und nimmt darin die Reichgottespredigt Jesu wieder auf Sie meint letztlich einen universalen Islam, der allen geoffenbarten Religionen zugrunde liegt. Dieser universale Islam ist das Bleibende, in dessen Namen Jesus als der eschatologische Mensch vor die Menschheit tritt.

Ich komme nun zum letzten Punkt, zum mystischen oder esoterischen Element der Lehre Jesu. Die Geheimlehre Jesu – denn um eine solche handelt es sich – ging in das Judenchristentum hinüber und lag, wie das Thomas-Evangelium zeigt, in den Händen des Jakobus. Das ursprüngliche Christentum kannte keine Dogmen. Es kannte aber Bilder und Gleichnisse für die, »die draußen sind«. Dem inneren Kreis aber enthüllte er den Sinn der Gleichnisse (Markus-Evangelium 4,33f). Aber genau diese Enthüllungen fehlen im Neuen Testament. Diese findet man vielmehr im Thomas-Evangelium. Dort heißt es, dass das Samenkorn, das man in den Acker streut, das Selbst, der göttliche Funke und Lichtkern in jedem Menschen ist, den es zu entwickeln gilt. Diese Geheimlehre teilte Jesus nur dafür bestimmten Jüngern mit. Es gab da einen engeren Dreierkreis. Außerdem einen »Jünger, den Jesus liebte«. Wir nennen ihn Johannes. Ob er wirklich Johannes hieß, ist eine andere Frage. Dieser Jünger hat Jesu Geheimlehre dann in das Johannes-Evangelium hineingeschrieben, das, wenn man die späteren kirchlichen Übermalungen wegdenkt, das älteste Evangelium im Neuen Testament ist. Durch die kirchliche Redaktion wurde es das Jüngste. Ein Nachklang dieser ursprünglichen Lehre ist, wenn man richtig zu lesen weiß, in den drei übrigen Evangelien des Neuen Testaments enthalten.

Und nun ist es interessant, dass auch in der islamischen Überlieferung die Geheimlehre eine Rolle spielt. Eine solche erscheint zunächst im Koran, beispielsweise in der Sure 4, die den Namen »das Licht« trägt, insbesondere in dem berühmten Lichtvers (V.35). Wer sich mit dem Koran beschäftigt, der wird in immer tiefere Schichten hineingeführt. Jedenfalls geht mir das so. Es hat eigentlich damit gar kein Ende, was da an Licht aus dem Koran hervorbricht. Er enthält zumindest potentiell eine esoterische Lehre, die sich allerdings nur dem aufschließt, der hingegeben ist an die Ausdrucksweise, den Sprachklang, die Verse, die ein Wunder darstellen in der Erscheinungswelt, weil sie dem Menschen die Brust öffnen zur Tiefe hin.

Und so wird gesagt, dass Mohammed seinen Vetter, Pflegesohn und Schwiegersohn Ali, den mystischen vierten Kalifen und ersten Imam der Schia, in die Geheimlehre eingeweiht habe, so dass es von daher, zumindest seit Ali, im Islam eine esoterische Tradition gibt, die auf den Propheten selbst zurückgeht. Aber vielleicht ist in den islamischen Mystikern eine uralte Tradition am Werke, die schwer auf ihre wirklichen Ursprünge hin zu erkennen ist.

Zu den Bezeichnungen, welche die Sufis sich selbst geben, gehört, dass sie sich Urchristen nennen. Das könnte einen sehr guten Sinn haben nach dert4 was ich Ihnen von der Geheimlehre Jesu vorgetragen habe. Ich kann sogar noch weiter gehen: Das Wollkleid, das erinnert doch ganz lebhaft an den Propheten Elias. Der lief doch auch in so einem härenen Gewande herum. Und dieser Elias hatte einen Prophetenkreis. Da wurde man eingeweiht in die geheimnisvollen Dinge, so dass auch seine Schüler geheimnisvoll wirken konnten. In Johannes dem Täufer erscheint ein solcher Sufi im härenen Gewand wieder. im Kreise Johannes des Täufers ist Jesus eingeweiht worden. Denn die Taufe ist ein Signal, ein Signum, ein Zeichen für eine Einweihung. Aus dem Kreise Johannes des Täufers ist wahrscheinlich das hervorgegangen, was sogar über den kirchlichen Bereich hinauswirkte, die große Bewegung der Gnosis. So haben es einige Kirchenväter verstanden.

Aber man muss noch einen Schritt weitergehen. In dem Propheten Mohammed tritt eine Gestalt auf, die, äußerlich betrachtet, dasteht wie einer unter anderen Propheten. Aber in diesem Moment hat sich nach mystischer Auffassung gleichsam dargestellt ein Licht, das Gott als Ausdruck des Selbst erschaffen hat, das so genannte Mohammed-Licht, oder »Nur muhammadiya«. Dieses Mohammed-Licht, das alle Propheten erleuchtet hat, ist der wahre Mensch, der Ersterschaffene Gottes, der Archetyp aller geschaffenen Dinge. Immer dort, wo Licht ist und Erkenntnis, da ist dies der göttliche Urbeginn der Grossen Welt (Makrokosmos) in der kleinen Welt (Mikrokosmos, der Mensch). Die Nur muhammadiya enthüllt den wahren Propheten in dem Propheten Mohammed. Daraufhin ist jeder einzelne von uns angelegt. Er ist in diesem Sinne der ersterschaffene Gottes, der Archetyp aller geschaffenen Menschen, der archetypische Mensch.

Vor lauter historischem Jesus haben wir längst vergessen, dass im Neuen Testament Jesus als der archetypische Mensch, der Menschensohn, vorgestellt wird, der in der himmlischen Welt von Gott als Erstling aller Seiner Werke geschaffen worden ist. Das ist also eine parallele Vorstellungsform zu dem, was im mystischen Islam über die Nur muhammadiya gesagt worden ist. Der archetypische Mensch ist mit den Eigenschaften Gottes, freilich auch in diesem Zustand Geschöpf, ausgestattet. »Gestaltet euch mit den Eigenschaften Gottes aus!« ist der Ruf, den der Prophet Mohammed an die Menschen ergehen lässt. Der Mensch ist das Abbild Gottes auf der geschöpflichen Ebene. In der letzten Tiefe ist Gott unerkennbar. Aber dadurch, dass ER Seine Eigenschaften erschafft – Er erschafft diese zunächst in dem urbildlichen Menschen -, gibt Er uns Anteil an Seiner Gnade.

Ein Erlebnis war für mich, als wir auf dem Kirchentag zu Nürnberg (1979) uns in einem Kreis, wo auch über den Islam gesprochen wurde und wo auch Moslems dabei waren, als freie Christen vorstellten und ich sagte: ich gehöre dem Bund für freies Christentum an«, da kamen spontan die Moslems und sagten: »Auch wir sind freie Christen!« Das besagt doch wohl, wenn man sich öffnet für die Urbotschaft des Christentums, dann gibt es eigentlich nur noch die eine geheimnisvolle Lehre. Wie sich herausstellte, waren diejenigen, die das sagten, Sufis.


Anmerkungen

  • *1 Rudi Paret, Mohammed und der Koran, Stuttgart 1957, S. 58
  • *2 Adolf Schlatter, Die Geschichte der ersten Christenheit, Darinstadt 1971, S. 368
  • *3 Siehe dazu meinen Aufsatz, Esau – Ismael – Jakob – eine Miszelle zum Trialog, in:

     

    Religionen im Gespräch,5. Band (RIG 5), hrsg. v. Reinhard Kirste, Paul Schwarzenau, Udo Tworuschka, Die dialogische Kraft des Mystischen, Balve 1998, S. 64-66

  • *4 Siehe dazu Muhammad Salim Abdullah, Islam für das Gespräch mit Christen, Gütersloh 1992, S. 145
  • *5 Die Vermutung, Paraklet stehe für ein ursprüngliches Periklytos hat viel für sich.

     

    Periklytos bedeutet wie Ahmed und Mohammed der Gelobte, der Gepriesene.

  • *6 So nach Ihn Ishaq, Das Leben des Propheten, übers. v. Gernot Rotter, Tübingen und Basel 1976, S. 45
  • *7 Pseudo-Clementinen, s. Hennecke-Schneemelcher, Neutestamentliche Apokryphen in deutscher Übersetzung, 2. Bd, 3. Auflage, Tübingen 1964, S. 72

Die mit einem * markierten Felder sind Pflichtfelder.

Ich habe die Datenschutzbestimmungen zur Kenntnis genommen.